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Der seltsame Fall des verschwindenden amerikanischen Arbeiters

Die Redewendung "Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken" gibt es schon fast so lange wie das Wort Statistik (das erstmals 1770 geprägt wurde). Selbst wenn Statistiken sorgfältig geprüft und korrekt wiedergegeben werden, ergibt sich nicht immer ein korrektes Gesamtbild.

Die Arbeitsmarktstatistiken der USA sind besonders kritisch zu hinterfragen und zu kritisieren. Tatsächlich führte die Pandemie im zweiten Quartal 2020 zu einem noch nie dagewesenen Stellenabbau. Die Arbeitslosenquote stieg sprunghaft an. Doch haben aber einige Indikatoren in letzter Zeit gemischte Signale über die Arbeitsmarktbedingungen übermittelt.

Der Vorsitzende der US-Notenbank, Powell, immer wieder betont, dass die maximale Beschäftigung "ein breit angelegtes und umfassendes Ziel" ist, das anhand einer "breiten Palette von Indikatoren" bewertet wird. Schliesslich hat die Fed angesichts einer Inflation von fast 9%, der höchsten Rate seit 40 Jahren, damit begonnen, die Zinssätze im Jahr 2022 anzuheben, da die US-Arbeitsmärkte nahe der Vollbeschäftigung sind.

Wo sind all die guten Leute geblieben?

Bis Ende 2021 sind mehr als 20 Millionen der 25 Millionen Arbeitsplätze, die durch die Pandemie verloren gegangen sind, wiederhergestellt worden. Somit sind seit Beginn der Pandemie etwa 5 Millionen Amerikaner aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Arbeitslos zu sein und sich nicht aktiv um Arbeit zu bemühen, kann für den Einzelnen und seine Familie gut oder schlecht sein. Manche Arbeitnehmer möchten beispielsweise Zeit mit der Erziehung ihrer Kinder verbringen oder einer Aus- oder Weiterbildung nachgehen. Auf jeden Fall aber hat die Nichtbeteiligung schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesellschaft, da sie letztlich zu einem langsameren Wirtschaftswachstum führt.

US-Arbeitsmarktindikatoren.

Zeigt die Erwerbsquote, d. h. den Anteil der Erwachsenen, die entweder erwerbstätig sind oder sich aktiv um einen Arbeitsplatz bemühen, die seit Beginn der Pandemie erheblich gesunken ist und sich erst seit kurzem wieder erholt.

Ein genauer Blick auf die Statistiken zeigt, dass mehr als 3 Millionen Amerikaner gerade in Rente gegangen sind. Die Pandemie hat das Tempo des Ausscheidens der alternden Erwerbsbevölkerung beschleunigt, da die Generation der Babyboomer bereits Ende der 90er Jahre in den Ruhestand ging. Natürlich sind andere Faktoren wie die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Betreuung der Familie zu Hause für potenzielle Arbeitnehmer nach wie vor von Bedeutung. Einige Personen, die zu Beginn der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren, suchten weniger intensiv nach einer neuen Beschäftigung, da sie von der beispiellosen Ausweitung der finanziellen Unterstützung durch die Regierung profitierten. Alle Geschichten über das spirituelle Erwachen von Arbeitnehmern, die nach der Pandemie in eine Sinnkrise gerieten, sollten ins Reich der fiktiven Geschichten verwiesen werden.

Einfach ausgedrückt: Viele Menschen, die 2020 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, wollen keinen Job mehr – und die Arbeitsmärkte werden weiterhin angespannt bleiben.

Unrealistische Mindestlöhne

Der Arbeitskräftemangel in allen Branchen – insbesondere in der Freizeitindustrie, im Gastgewerbe und im Gesundheitswesen – hat zu drastischen Lohnsteigerungen geführt. Die Arbeitgeber von Geringverdienern haben im Einklang mit Präsident Bidens Anhebung des Mindestlohns auf Bundesebene von derzeit 7,25 Dollar pro Stunde auf 15 Dollar pro Stunde gehandelt. Und die Anhebung der Mindestlöhne ist ein mutiger Schritt.

Wirtschaftswissenschaftler lehnen Mindestlöhne instinktiv ab, da sie in den üblichen Lehrbuchmodellen zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Der Nobelpreisträger David Card ist mit dem akademischen Konsens nicht einverstanden, da er in seiner Forschung "keinen Hinweis" darauf gefunden hat, dass eine Erhöhung des Mindestlohns Arbeitsplätze kostet. Internationale Organisationen, darunter der IWF, die Weltbank und die OECD, schlossen sich den Ergebnissen von Card an und empfahlen die Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen, um die Erwerbsbeteiligung zu steigern. Ausserhalb der USA haben beispielsweise Hongkong, Deutschland und Genf in der Schweiz Mindestlöhne eingeführt, und das Vereinigte Königreich hat die Mindestlöhne vor einigen Jahren erhöht.

Es ist noch zu früh, um die Auswirkungen der jüngsten Mindestlohnerhöhung auf den US-Arbeitsmarkt zu beurteilen. Die meisten akademischen Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass die Auswirkungen von Mindestlöhnen auf die Beschäftigung schwer zu bestimmen sind, aber es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass Mindestlohnerhöhungen zu höheren Löhnen führen. Dies ist sicherlich eine gute Nachricht für die am schlechtesten bezahlten Amerikaner, da ihre Löhne in letzter Zeit schneller gestiegen sind als die Löhne der am besten bezahlten Arbeitnehmer.

Massive Pensionierungen, Sicherheitsbedenken, grosszügige staatliche Leistungen und die Sorge um die eigene Familie erklären, warum Millionen von Amerikanern aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Dies deutet darauf hin, dass Lohnerhöhungen möglicherweise nicht genügend Arbeitskräfte in die einstellenden Unternehmen bringen. Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der hohen Inflation erwarten wir, dass die Fed die Zinsen in diesem und im nächsten Jahr weiter anheben wird.